HANDBALL Inside: Wo sind sie geblieben?

28.03.2019 10:30
Die Zahl der deutschen Schiedsrichter sinkt dramatisch. Eine Veranstaltung in Kiel beleuchtete die Probleme speziell im Jugendbereich. Taugt das dänische Modell als Vorbild? Der Westfale Wolfgang Jamelle, 65, Schiedsrichterwart des Deutschen Handballbundes, 16 Jahre Referee in der Bundesliga, lamentiert nicht lange. Jamelle macht. Neulich hat er, als ein Schiedsrichtergespann im Stau steckte, am Telefon kurzerhand die Ansetzungen für zwei Bundesligaspiele getauscht, damit alles pünktlich anfangen konnte. Ganz fix ging das. Die Probleme seiner Gilde an der Basis dürften, ahnt der oberste Schiedsrichterfunktionär, allerdings nicht so leicht zu lösen sein. Der Schwund sei enorm, berichtete er: „Von acht Schiedsrichtern, die angelernt werden, bleibt nach zwei, drei Jahren einer übrig, das ist aus meiner Sicht die Quote.“

Deshalb ist Jamelle am 2. März auch gern ins Hotel Atlantik nach Kiel gekommen. Dorthin hatte der Handballverband Schleswig-Holstein (HVSH) seine Schiedsrichter eingeladen, um eine der Kernaufgaben des organisierten Handballs in Deutschland zu diskutieren. „Wir haben ein großes Problem“, sagt HVSHPräsident Dierk Petersen vor rund 100 Gästen im Raum „Förde“. Zu wenig Schiedsrichter, zu viele Ausfälle, allein 60.000 Euro Strafgelder mussten die Vereine im nördlichsten Bundesland zahlen, weil ihre Schiedsrichter nicht zu den Spielen erschienen. So viel Geld! „Das ist doch ein Wahnsinn“, sagt Petersen.

Der HVSH hat seit 2004, als er noch 2.847 lizensierte Schiedsrichter verzeichnete, über 35 Prozent seiner Spielleiter verloren. Übrig waren 2017 noch 1.847. Im DHB ist die Lage ähnlich. Die Zahl der Schiedsrichter ist von 2007 (30.156) bis 2017 (23.581) um über 21 Prozent gesunken. „Die Entwicklung ist in den letzten zehn Jahren doch relativ dramatisch verlaufen“, sagt Jamelle. Allein die Zahl der weiblichen Schiedsrichter, die auf 5.000 gestiegen ist, macht ihm Freude. „Das ist eine sehr erfreuliche Zahl.“ Aber insgesamt bereiten ihm die sinkenden Zahlen doch große Sorge. „Es fehlen in Deutschland rund 5.000 Schiedsrichter, um alle Klassen adäquat zu besetzen. Wir müssen sehen, dass wir Schiedsrichter gewinnen.“ Nur wie?

Durch Digitalisierung, erklärt Jamelle. „E-Learning“ heißt das Zauberwort. Er will die Lehrmaterialien am liebsten komplett ins Internet verlagern und die Lehre visueller machen. Jamelle schwärmt von den technischen Möglichkeiten, die das Portal Sportlounge bietet, von leicht handhabbaren S c h n i t t p r o - grammen. Und er preist den Schiedsrichtern aus Schleswig-Holstein die schnellen Aufstiegsmöglichkeiten an, die sich inzwischen böten. „Die Ochsentour, dass man erst drei Jahre in der Kreisliga pfeifen muss, die gehört eigentlich der Vergangenheit an.“ Talentierte Schiedsrichter könnten schnell in höhere Klassen aufsteigen. Und dann, ganz am Ende seines Vortrages, sagt Jamelle noch einen Satz: „Wir dürfen die jungen Leute nicht alleine lassen, gerade beim Neubeginn.“

Der Neubeginn. Der ist heikel, weiß Frank Wipper. Der Koordinator der Jugendschiedsrichterausbildung im HVSH bestätigt die hohen Abbrecherquoten der Anfänger. Es gebe kein gesichertes Datenmaterial darüber, sagt er. „Aber gefühlt ist das so“. Die meisten Anfänger in seinem Kreis würden, wenn sie nach einem Wochenendlehrgang beim HVSH oder an fünf Abenden ihre Lizenz erworben hätten, zunächst in ihren Vereinen Spiele in der D- und EJugend pfeifen. Meistens allein, räumt er ein. „Aber wenn sie im Jugendbereich auf Schleswig-Holstein-Ebene aufstiegen, dann bekommen sie Coaches an die Hand.“ Im Pool des HVSH gibt es derzeit rund 30 Leute, die den Nachwuchs entsprechend schulen. Aber diese Coaches wechseln stetig, weil sie nur Wege bis 50 Kilometer bezahlt bekommen, und oft fallen sie auch aus, weil sie selbst pfeifen müssen. „Wenn ein Gespann unbedingt einen Coach haben will, dann bekommt es auch einen“, sagt Wipper. „Aber wir haben ja Schiedsrichtermangel.“

„Ihr habt Probleme? Wir nicht“, hatte Lars Luk Nielsen vor der Veranstaltung gesagt, als sich die Gäste noch bei Spätzle, Salat und Milchreis stärkten. Der Däne, seit 1978 Schiedsrichter, arbeitet seit vielen Jahren im Lehrwesen Jütlands, der größten Region im Dansk Håndbold Forbund (DHF). In Kiel erzählte er von dem dänischen Modell, in dem offenbar junge Schiedsrichter wie Bäume aus dem Boden wachsen. „Wir haben viele junge Schiedsrichter“, sagte Nielsen. Der Handball werbe auch gezielt um Schiedsrichter: „Wir sagen den jungen Leuten: Als Aktive schafft Ihr es vielleicht in die 3. Liga. Aber bei uns könnt Ihr Karriere machen.“

Der gravierendste Unterschied, das wurde aus Nielsens Referat deutlich, besteht in der Grundausbildung und in der Betreuung. Während man in früheren Jahrzehnten noch viele Stunden pauken musste, sei die Schwelle zum Einstieg heute viel niedriger, erklärte der Däne. Seit 2010 reiche ein Kurs von vier Stunden, dann werde man als Schiedsrichter auf die U 10 losgelassen. Aber niemals pfeife ein Anfänger allein, erklärte Nielsen. „Sie pfeifen immer mit einer Aufsicht, und jedem neuen Schiedsrichter wird ein Mentor zugewiesen, der ihn teilweise über Jahre begleitet.“ Sie pfeifen so lange mit Aufsicht, bis sie sicher sind. Und erst dann geht es in die nächsthöhere Alterklasse, die U 12. „Und schon dort zeigt sich meistens das Potenzial eines neuen Schiedsrichters“, weiß Nielsen.

Das Mentorenprogramm ist obligatorisch. Manchmal pfeifen Mentoren und junge Schiedsrichter in der U 14 dann auch gemeinsam Spiele, um die Anfänger quasi am Objekt zu schulen. Und oft wird das Kampfgericht der Spiele mit Mentoren besetzt. Um Kosten zu sparen, würden die Mentoren dann in weiteren Spielen selber als Schiedsrichter angesetzt. Auch die Finanzen werden in Dänemark nicht pro Spiel von den Vereinen abgewickelt. Vielmehr sind die Schiedsrichter in Schiedsrichtervereinen organisiert, die ihre Mitglieder pro Monat abrechnen. Pro Stunde gibt es 120 Kronen (ca. 16 Euro) pro Schiedsrichter, die Wege werden mit 3,5 Kronen pro Kilometer abgerechnet. Genauso zentral aber sei die Idee, die sozialen Kontakte unter den jungen Nachwuchskräften zu fördern. „Wir organisieren die neuen Schiedsrichter in Jugendgruppen mit ungefähr 15 bis 25 Mitgliedern“, berichtete Nielsen. „Und diese Gruppen treffen sich nicht nur zum Konditions- und Regeltest, sondern sie unternehmen auch viele Dinge, sie gehen gemeinsam zu Spielen der Dänischen Liga, oder sie gehen Wandern oder zum Bowling. Und dabei können sie sich untereinander austauschen.“ Auch in Dänemark können sie nicht alle Anfänger in der Schiedsrichterei halten, selbstverständlich nicht. Aber die Verluste sind viel niedriger. Die intensive Betreuung und die Idee, die Nachwuchskräfte sozial miteinander zu verbinden, scheinen Früchte zu tragen.

Wahrscheinlich liegt die Lösung des Problems nicht darin, die neuen Schiedsrichter zu gewinnen. Der HVSH etwa hat im vergangenen Jahr über 100 neue Schiedsrichter ausgebildet. Wahrscheinlich kommt es vielmehr darauf an, sie zu halten.

Dieser Artikel stammt aus der HANDBALL inside AUSGABE #20 2/2018. Autor: Erik Eggers

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Quelle: PM HANDBALL Inside

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