Der 10. Juni 2017, es ist der Tag, der Matthias Stocker schon jetzt ganz schwer im Magen liegt. Angesprochen auf den letzten Spieltag der Saison in der 2. Handball-Bundesliga kommt der sonst so flüssig und selbstbewusst redende Spielgestalter der HSG Konstanz ins Stocken. Die Stimme brüchig, in den Augen Tränen, gegen die er vergeblich ankämpft. Nach diesem Spieltag wird Schluss sein für den 29-Jährigen. Anstatt auf dem Spielfeld in der zweiten Liga wird er anschließend die Kommandos an der Seitenlinie des Konstanzer Oberliga-Perspektivteams geben und die blutjunge zweite Mannschaft der HSG als verantwortlicher Trainer übernehmen.
Damit wird nach vielen Jahren mit extremen Höhen und Tiefen eine sehr bewegte Karriere als aktiver Handballer für den gebürtigen Spaichinger enden, in der der geniale Ideengeber sechs Aufstiege feiern durfte. Nicht viele Spieler können beim Blick zurück auf ihre aktive Karriere von sich behaupten, nahezu alles mitgemacht zu haben, was der Sport bietet. Matthias Stocker kann es. Von der Bezirksklasse bis zur 2. Bundesliga hat er alle Spielklassen hautnah selbst erlebt und dort gespielt. Dazu kommen neben den vielen Aufstiegen mit dem Höhepunkt der Süddeutschen Meisterschaft und der Zugehörigkeit zur stärksten zweiten Liga der Welt auch schwere Rückschläge. Großes Verletzungspech machten vor ein paar Jahren Operationen an Knie und Sprunggelenk nötig und es war zwischenzeitlich nicht einmal klar, ob der 1,78 Meter kleine Spielmacher überhaupt jemals wieder Handball spielen können wird.
Was in jedem Spiel zu beobachten ist, wird hier am offensichtlichsten. Der kleine, emotionale Mann mit der Nummer zehn hat ein riesengroßes Kämpferherz und holt immer das Maximale aus sich und seinem Körper heraus. Über seinen Heimatverein Rietheim, in der Württemberg- und Landesliga, empfahl er sich 2014 für eine zweite Chance in Konstanz, nachdem er in der Saison 2011/2012 verletzungsbedingt nur auf zwei Einsätze und drei Tore bei der HSG gekommen war. Der Rietheimer ist der HSG Konstanz dankbar, dass sie ihm diese Möglichkeit bot und das Risiko einging. Die Chance hat er eindrucksvoll genutzt, war stets der Überraschungsfaktor im Spielaufbau, sehr torgefährlich und einer der emotionalen Anführer im sehr jungen Team der HSG Konstanz – und mit „dem Tor seines Lebens“, wie er seinen Freiwurf durch den Block nach Ablauf der Spielzeit zum Sieg gegen Verfolger Leutershausen bezeichnet, für einen der wohl verrücktesten Handball-Momente der letzten Jahre verantwortlich. All das wird dem Vollblut-Handballer und absoluten Teamplayer fehlen.
„Der Aufwand in der 2. Bundesliga und die Trainingsintensität lassen sich nach dem Studium einfach nicht mehr mit einer Vollzeitarbeit vereinbaren“, erklärt Matthias Stocker, „diese Saison ging das noch, weil ich mir nur ein Praktikum gesucht habe und mir mein Arbeitgeber sehr entgegenkommt.“ Dazu kommt die große körperliche Belastung. „Ich schaffe es diese Saison eben nicht mehr wie in der letzten jeden Tag ins Fitnessstudio. Das ist dann ein Ritt auf der Rasierklinge, bis die nächste Verletzung kommt. Das möchte ich mir, meinem Körper und meinem Umfeld ersparen. Die haben das alle schon einmal mitgemacht. Ich möchte gerne in 20, 30 Jahren auch noch Sport machen können, das liegt mir sehr am Herzen.“
Auch wenn der Abschied und diese Einsicht schwerfallen, so werden sie gleichzeitig mit einer neuen Aufgabe versüßt, die einiges leichter macht. Der B-Lizenzinhaber wird bei seiner ersten Trainerstation die in der viertklassigen Oberliga Baden-Württemberg beheimatete zweite Mannschaft der HSG Konstanz als Chefcoach übernehmen und die vielen jungen Talente auf dem Weg in die 2. Bundesliga fördern. Zur Seite wird ihm HSG-Talenttrainer Tobias Eblen als Co-Trainer stehen, während Gabor Soos in den Jugendbereich wechseln und sich um die Grundlagenausbildung kümmern wird.
„Schade, dass wir Matze als Spieler verlieren“, sagt Andre Melchert als Sportlicher Leiter der HSG Konstanz, freut sich aber, dass er „einen Akteur mit solch einem guten Spielverständnis“ als Trainer gewinnen konnte. „Matze ist da sehr motiviert und möchte zusammen mit unserer sehr jungen Perspektivmannschaft einiges voranbringen.“ Bereits sieben Spieler aus der zweiten Mannschaft hatten zuletzt schon Einsätze in der ersten. „Das zeigt ihre Bedeutung für uns. Hier bauen wir unsere Talente auf“, erklärt Melchert und verweist darauf, dass Matthias Stocker das Spielsystem der HSG bestens verinnerlicht hat.
Der BWL-Absolvent freut sich indes auf die Aufgabe und das erneut große Vertrauen des Vereins, dem er, wie er klarstellt, „sehr viel zu verdanken hat.“ „Ohne Handball würde ich es wohl kaum aushalten, deshalb bin ich sehr glücklich, dass ich der HSG treu bleiben und weiter ein Teil von ihr sein kann. Ohne diese neue Aufgabe weiß ich tatsächlich nicht, ob ich den Absprung schon geschafft hätte. Das Herz sagt spiel weiter, der Verstand sagt hör auf.“ Der mit 45 erzielten Treffern aktuell fünftbeste HSG-Torschütze hat auch schon eine klare Vorstellung von dem, was ihm als Trainer wichtig ist: „Man legt immer Wert auf das, was einen auch selbst als Spieler ausgezeichnet hat. Bei mir der Wille, immer alles zu geben. Außerdem möchte ich grundsätzlich bedingungslosen Tempohandball aus einer guten Abwehr heraus sehen.“
Dazu möchte er an den Strukturen arbeiten und möglichst viele junge Talente so weiterbringen, dass sie – unabhängig von der Spielklasse des Perspektivteams – die Chance haben, den Sprung in die 2. Bundesliga zu schaffen. „Die Reserve ist und soll absolutes Sprungbrett dorthin sein. Nicht jedem wird das gelingen, aber auch für diese Spieler möchte ich ein guter Trainer sein, unter dem sie sich bestmöglich entwickeln können und auf ihr Topniveau kommen.“
Alles Zukunftsmusik, vorher zählt für den ehrgeizigen Aufbauspieler nur das große Ziel Klassenerhalt in der 2. Bundesliga, bevor der letzte Vorhang mit dem Heimspiel gegen Bundesliga-Absteiger Eisenach im Juni tatsächlich fällt. Es wäre, so sagt er, der größte Erfolg seiner Karriere – der krönende Abschluss. „Das wird ein schwerer, emotionaler Abschied“, atmet Stocker tief ein, „ich tue mir schon jetzt schwer damit, aber habe auch schon pure Vorfreude auf das, was danach kommt. Es wird das schwierigste Spiel in meinem Leben, das kann ich jetzt schon voraussagen – und ein absolutes Highlight zugleich. Ich habe ein bisschen Angst davor, gemischt mit ganz viel Freude.“
Vorfreude darauf, Entscheidungen zu treffen, führende Hand zu sein und mit jungen Spielern zu arbeiten. Stocker: „Das hat mir immer Spaß gemacht, egal in welchem Bereich. Ich denke, ich kann ganz gut mit jungen Menschen und freue mich auf jeden einzelnen Spieler.“ Schließlich gesteht er ein, dass er ohne Wettkampf nicht sein kann, brauche das Gefühl des Teams bei gemeinsamen Erfolgen und Niederlagen. „Das ist einzigartig, das möchte ich nie missen in meinem Leben.“ Humor ist noch so etwas, was bei dem verrückten Schwaben nie fehlt. Deshalb wischt er seine Tränen und den Kampf mit den Emotionen auch lieber mit einem herzhaften Lächeln beiseite. „Mit Team Alt muss ich im Fussball in der Rückrunde unbedingt noch einmal gewinnen – als Verlierer kann ich nicht abtreten. Sonst muss ich doch noch eine Saison dranhängen.“
Quelle: PM HSG Konstanz