THW empfängt Tabellenführer
Nach der endgültig letzten Länderspiel-Pause biegen die Handballer des THW Kiel nun auf die Zielgerade einer langen Saison ein. Bevor die Europapokal-Klassiker gegen den FC Barcelona und das "Lufthansa Final Four" um den DHB-Pokal anstehen, empfangen die "Zebras" am kommenden Mittwoch im absoluten Bundesliga-Spitzenspiel den designierten deutschen Meister HSV Hamburg. Für die Kieler geht es dabei nicht nur um zwei Punkte im Kampf um Platz zwei - sie wollen gegen den seit 27 Ligaspielen ungeschlagenen Tabellenführer auch ein Zeichen für einen erfolg- und titelreichen Schlusspurt setzen.
Der Anwurf in der ausverkauften Sparkassen-Arena-Kiel erfolgt um 20.15 Uhr, Sport1 überträgt das Spitzenspiel live.
Die meisten Handball-Experten waren vor der Saison auf die Frage nach einem Meisterschaftsfavoriten von einem Zweikampf zwischen dem HSV Hamburg und dem THW Kiel ausgegangen. Das knappe 27:26 der Hansestädter im Supercup gegen die Fördestädter schien diese Fachleute in ihrer Meinung zu bestärken. Doch letztlich kam einmal mehr im Handball alles anders als gedacht: Während der THW schwächelte, zogen die Hamburger beinahe einsam ihre Kreise an der Tabellenspitze. Und deshalb feiern Bertrand Gille, Johannes Bitter & Co. in diesem Jahr vermutlich ihren ersten wirklich großen Titel: Die Schale wandert von der Förde, wo sie seit sechs Jahren schon so etwas wie zur Wohnzimmereinrichtung gehörte, erstmals an die Elbe. Die Millioneninvestitionen von Mäzen Andreas Rudolph in den vergangenen Jahren zahlen sich zum ersten Mal aus.
Dabei hatte am ersten Spieltag noch alles wie immer gewirkt: Die Hansestädter starteten in Göppingen mit einer überraschenden 30:32-Niederlage in die Saison und fürchteten einmal mehr um ihre Titelchancen. Doch anders als in den vergangenen Jahren fing sich die HSV-Truppe schnell: Fortan gerieten sie nur noch ganz selten in die Gefahr einer Niederlage. Die SG Flensburg-Handewitt wurde in eigener Halle mit 32:24 besiegt, und auch die Kieler konnten erstmals seit Jahren die O2-World nicht mehr im Sturm nehmen:
Ersatzgeschwächt und unglücklich verloren die Kieler in Hamburg mit 25:26, der HSV kletterte am 12. Spieltag an die Tabellenspitze. Als die Hamburger dann kurz darauf nach einem Drei-Tore-Rückstand zur Pause auch noch die Rhein-Neckar Löwen besiegten und auch beim VfL Gummersbach nach einem 14:15 zur Halbzeit letztlich klar gewannen, war das "Unternehmen Titel" richtig in Schwung gekommen. Stoppen konnte sie auch nicht die HSG Ahlen-Hamm, die in der Dortmunder Westfalenhalle an einer Sensation schnupperte, nach einer Fünf-Tore-Führung zur Halbzeit aber doch noch mit 28:30 verlor. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass der HSV in dieser Saison konstanter als je zuvor spielt, dann war es diese Partie: Noch in der Vorsaison wären die Hamburger bei diesem Spielverlauf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gestolpert. So aber gingen sie mit einem beruhigenden Fünf-Punkte-Vorsprung auf den THW in das neue Jahr.
Nach der WM-Pause hoffte man bei der Konkurrenz auf ein Schwächeln des HSV: In Lübbecke reichte es nur zu einem Unentschieden, gegen das die Hamburger Protest einlegten und diesen erst nach den historischen Heimniederlagen des THW gegen Großwallstadt und die Rhein-Neckar Löwen wieder zurückzogen. Doch der Punktverlust war nicht mehr als eine Randnotiz: Bei den Füchsen Berlin revanchierte sich der HSV beim 35:22 eindrucksvoll für das Pokal-Aus, und auch die Flensburger konnten die Hansestädter nicht stoppen - so konnten die Hansestädter in der Campushalle schon einmal vorfeiern.
Dass sie dies leiser taten als in den Vorjahren, ist Zeugnis eines Reifeprozesses: Noch in der vergangenen Spielzeit hatten die Hamburger viel Spott ertragen müssen, weil sie schon vor der Partie gegen den THW in eigener Halle eine große Meistersause geplant hatten. Die fiel bekanntermaßen aus - dafür triumphierten noch einmal die Zebras. Und auch der erste Punktverlust in eigener Halle am 10. April gegen den neuen Favoritenschreck TV Großwallstadt lässt den HSV einigermaßen kalt - denn sechs Spieltage vor Schluss hat man immer noch beruhigende sieben Minuspunkte Vorsprung auf die Konkurrenz (siehe auch Gegnerkurve Hamburg und Tabelle).
In dieser Saison gaben sich die Hamburger trotz des greifbaren ersten Meistertitels in ihrer Geschichte bescheidener: "Wir sind stabil. Die Niederlagen von Kiel spielen uns in die Karten. Wir glauben an die Meisterschaft, auch wenn wir erst feiern, wenn es so weit ist", sagte Pascal Hens nach dem Sieg in Flensburg. Glückwünsche wolle man trotz des Riesen-Vorsprungs auf die Konkurrenz noch nicht annehmen, so Hens weiter. "Die will noch keiner hören. Wir sind oft genug auf die Fresse geflogen. Aber wenn wir weiter so spielen wie momentan, glaube ich auch nicht, dass es schiefgehen kann." Und selbst Trainer Martin Schwalb, ansonsten für die ganz lauten Töne bekannt, trat auf die Euphoriebremse: "Der Sieg in Flensburg war ein großer Schritt, aber wir müssen auch die nächsten Schritte hinbekommen. Wir wollen deutscher Meister werden, aber wir sind es noch nicht."
Das Erfolgsrezept der Hamburger in dieser Spielzeit ist einfach zu beschreiben: Zum ersten Mal wurde in der Hansestadt auf Konstanz gesetzt. Das Erfolgsmodell des THW Kiel, eine gute, eingespielte Mannschaft nur punktuell zu ergänzen, hat nun auch beim HSV zum Erfolg geführt: Lediglich einen Neuzugang verpflichtete Andreas Rudolph vor dieser Spielzeit: Nach endlos langen Verhandlungen präsentierte er mit Nationalspieler Michael Kraus vom TBV Lemgo einen weiteren Weltmeister von 2007.
Mit dem Rückraumspieler, der für eine Ablöse von rund 300.000 Euro an die Elbe wechselte, wurde der Rückraum der Hamburger noch flexibler. Mit Pascal Hens, Guillaume Gille, Blazenko Lackovic, den Lijewski-Brüdern, dem kroatischen Superstar Domagoj Duvnjak und eben Kraus tummelt sich siebenfache Weltklasse im Rückraum. Und auch der Kreis sowie die Außen - mit dem Haupttorschützen Hans Lindberg sowie den Nationalspielern Torsten Jansen, Matthias Flohr und Stefan Schröder - sind jeweils mit zwei Top-Leuten besetzt. Im Tor ergänzten sich Johannes Bitter und Per Sandström in dieser Saison ideal.
Selbst die Vertragsverhandlungen konnten die Hamburger in dieser Spielzeit nicht aus der Bahn werfen - auch wenn die Diskussion um den Abgang der beiden Gille-Brüder bei den Fans für Ärger sorgte, bis das Duo rechtzeitig zum Großwallstadt-Spiel endlich für zwei Spielzeiten verlängern durfte. Mit Torhüter Bitter (bis 2015), Kreisläufer Igor Vori (bis 2014) und Hans Lindberg (bis 2017) wurden die Verträge verlängert - sie sollen die Basis für weitere Erfolge bilden. Und doch werden die Hamburger nach dieser Saison einen Umbruch erleben:
Vize-Präsident Dierk Schmäschke geht zurück nach Flensburg, Trainer Martin Schwalb wird ins Management des HSV aufrücken, sein Nachfolger wird Per Carlen, der seinen Sohn Oscar von der SG Flensburg-Handewitt mit an die Elbe bringt. Dieser wird die Lücke schließen, die Krzystof Lijewski mit seinem Wechsel nach Mannheim oder Kopenhagen reißen wird. Per Sandström zieht es zur MT Melsungen, die Hansestädter wilderten dafür erneut an der dänischen Grenze:
Dan Beutler wird ab der kommenden Saison das HSV-Trikot tragen. Die wichtigste Änderung aber betrifft den Geldgeber, der das Projekt HSV mit seinen Millionen am Leben hielt: Andreas Rudolph wird sein Präsidentenamt niederlegen. "Ich habe bis vor sechs Jahren auch ohne HSV gelebt", sagte Rudolph in der aktuellen Ausgabe des Handball-Magazins, "ich spüre, dass ich den Ansprüchen des Jobs, des Privatlebens und des Alters nicht mehr voll gerecht werden kann. Ich werde mich verstärkt meinem Unternehmen widmen, aber ich freue mich auch auf mehr selbst planbare Zeit. Ich bleibe aber Anteilseigner des Vereins."
Sowohl Alfred Gislason als auch Martin Schwalb können am Mittwoch voraussichtlich aus dem Vollen schöpfen. Auch die zuletzt angeschlagenen Nationalspieler Pascal Hens und Michael Kraus, die den Lehrgang von Heiner Brand und die Testspiele gegen Norwegen nicht mitnahmen, werden in der Sparkassen-Arena-Kiel auflaufen können.
Die Schiedsrichter des Spitzenspiels sind Bernd und Reiner Methe (Vellmar).
Quelle: http://www.toyota-handball-bundesliga.de/