Vor dem Gastspiel von Besiktas Istanbul in der EHF Champions League bei der SG Flensburg-Handewitt blickt Hans Cachay, Professor für Sportsoziologie an der Uni Bielefeld, auf die Integration ausländischer Talente im Handball.
Wenn die SG Flensburg-Handewitt am Mittwoch, den 11. Februar, Besiktas Mogaz aus Istanbul empfängt (ab 19 Uhr live auf Sky), erleben Handball-Fans in Deutschland eine Premiere. Zum ersten Mal können sie einen türkischen Vertreter in der Königsklasse sehen. Ein Ereignis, bei dem es laut Klaus Cachay um mehr als nur ein Handballspiel geht. Im Interview erklärt der Sportsoziologie-Professor an der Universität Bielefeld, warum der deutsche Nachwuchshandball mehr für die Integration, insbesondere von türkischen Talenten, tun muss.
Vor gut zwei Jahren haben Sie eine Studie zur Integration von Migrantinnen und Migranten im organisierten Sport veröffentlicht. Zu welchen Ergebnissen kamen Sie?
Klaus Cachay: Wir haben unter anderem festgestellt, dass bestimmte Sportarten große Schwierigkeiten haben, jugendliche Migrantinnen und Migranten für sich zu gewinnen. Und dazu gehört auch der Handball. Im Fußball haben von der U16, U18 bis hin zur Nationalmannschaft ein Großteil der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen einen Migrationshintergrund. Im Handball haben wir so gut wie keine Migranten in unseren Jugendnationalmannschaften und auch kaum welche in der Männer-Nationalmannschaft.
Gilt das für alle Bevölkerungsgruppen?
Klaus Cachay: Das gilt für alle Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Religionen und Ethnien. Türken, Osteuropäer, aber auch für Russlanddeutsche. Die größte Population, die wir in der Hinsicht haben, sind natürlich Türkischstämmige. Die tauchen so gut wie gar nicht in Handballvereinen auf.
Was bedeutet das für den Handball?
Klaus Chachay: Das ist genau zu reflektieren. Schaut man sich die demographische Entwicklung an, haben zum Beispiel in Mannheim 40 bis 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von fünf bis 18 Jahren einen Migrationshintergrund. Das gilt für die Bundesrepublik insgesamt und in unterschiedlichem Maße in den Handball-Hochburgen wie zum Beispiel Göppingen oder Minden. Insgesamt sinkt die Anzahl der Kindern und Jugendlichen zwischen fünf und 18 Jahren. Wenn dabei der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund wächst, und sie an der Sportart nicht partizipieren, wird der Pool aus dem die Vereine rekrutieren können, immer kleiner. Und um diesen kleineren Pool konkurrieren ja immer verschiedene Sportarten. Die Sportart, für die das überhaupt kein Problem darstellt, ist Fußball. Aber die anderen Sportarten werden zunehmend Probleme bekommen. Das Defizit, das hier besteht, ist im Hinblick auf die Talentrekrutierung als problematisch anzusehen.
Das heißt, auf lange Sicht wird der deutsche Handball nicht mehr konkurrenzfähig sein, wenn sich nichts ändert?
Klaus Cachay: Sagen wir mal so: Er muss dann mit dem leben, was er hat. Also mit den Wenigen. Das kann man vielleicht kompensieren durch exzellente Ausbildung. Es wird auch Sportarten, wie zum Beispiel Hockey, geben, die sozial so hoch gelagert sind, dass sie an die Migrantenbevölkerung gar nicht herankommen. Mittel- und langfristig wird das sicherlich ein Problem darstellen.
Was macht denn die Hemmschwelle so hoch, zum Handball zu gehen?
Klaus Cachay: Das wissen wir nicht. Wir sind gerade dabei, ein Forschungsprojekt aufzulegen, um hier nachspüren zu können. Schwierig ist es, weil man ja die, die nicht da sind, nicht einfach befragen kann. Gleichwohl kann man überlegen, ob die Vereine in gewisser Weise Formen der Exklusion produzieren. Erscheint Handball als enorm deutsche Sportart? Gibt es Exklusionsmechanismen, die auf der Ebene der Vereine liegen könnten? Gibt es Formen der Kommunikation, die verhindern, dass sich Migrantinnen und Migranten angesprochen fühlen? Und auf Seite der Kinder und Jugendlichen müsste man fragen, ob Handball nicht anschlussfähig ist für ganz bestimmte Wertmuster und normative Vorstellungen, die über die Familie kommen.
In der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet erschien vor kurzem eine Artikelserie, die das „Ballwunder des Balkans“ beleuchtete. Viele Stars aus Ex-Jugoslawien äußerten dort die Meinung, die kriegsgeprägte Geschichte ihrer Heimat hätte sie zu kreativen Mannschaftssportlern mit großem Siegeswillen geformt. Prägen Geschichte und Kultur die Sportgewohnheiten eines Volkes?
Klaus Cachay: Natürlich, wir haben selbstverständlich eine Geschichte von ganz bestimmten Sportarten. Aber die prägt national. Die Frage ist ja dann, warum diese Kultur zum Beispiel sperrig erscheint für ganz bestimmte Migrantenbevölkerungen. Und an dem Punkt ist es rätselhaft, warum Handball für ganz bestimmte Jugendliche nicht attraktiv ist. Die Väter und Mütter sind zum Teil in der dritten Generation hier. Das heißt, die Kinder sind hier voll sozialisiert über Bildungseinrichtungen. Und wir haben trotzdem diese Selektionseffekte. Das ist das Überraschende.
Handball gilt als sehr harte, körperliche Kontaktsportart. Kann dieses Image abschreckend wirken?
Klaus Cachay: Fußball ist auch eine sehr körperliche und harte Sportart. Die schreckt nicht ab. Die Sportart selber mit ihren Strukturbedingungen – Kampf, Schnelligkeit, Darstellungsmöglichkeiten – scheint anschlussfähig zu sein. Man müsste eigentlich die Hypothese formulieren, dass dies Jugendlichen, insbesondere dem türkischen Teil der Migranten, sehr nahe kommt. Die sind ja auch in Kampfsportvereinen aufzufinden. Diese Faktoren sind es also eher nicht. Eine andere, ganz einfache These: Wenn es gelingt, Vorbilder zu bekommen, Özils oder Khediras zu haben, „Heroes“ mit Migrationshintergrund, gibt es positive Effekte. Solche Vorbilder hat der Handball nicht.
Was also tun?
Klaus Cachay: Eine der wesentlichen Strategien muss sein, dass man versucht, über den Sportunterricht und die AGs, über Formen der Kooperation zwischen Vereinen und Schulen, an diese Population heranzukommen. Das wird Aufgabe der Vereine und Verbände sein. Und der Handball scheint das Problem, wenn man die Verlautbarungen auf der Ebene des deutschen Handballbundes ernst nimmt und sich die Perspektive 2020 anguckt, erkannt zu haben.
Sie haben Ihre Studie schon 2012 veröffentlicht und den deutschen Handball als „trägen Tanker“ bezeichnet. Ist er, wie Sie damals forderten, angeschoben worden?
Klaus Cachay: Nicht mit strategischen Maßnahmen. Es gibt erste, bescheidene Versuche. Wenn ich die Interviews mit Bob Hanning (Geschäftsführer der Füchse Berlin, d.Red.) lese, dann hat Berlin dies erkannt. Aber strategisch wird dies von den Vereinen noch nicht genutzt. Es mag Einzelfälle geben, aber systematisch auf gar keinen Fall. Ich glaube, das Phänomen wird jedem einleuchten. Nur: So lange es mir gut geht im Handball und ich als Verein erfolgreich bin, habe ich ja keine Not. Wir müssen die Problematik sehen, die unweigerlich auf uns zukommt. Wir haben heute ja schon in bestimmten Bereichen Schwierigkeiten, müssen Spielgemeinschaften gründen. Es ist ja nicht so, dass wir auf Dauer damit rechnen können, genug Potenzial zu haben.
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das Aufeinandertreffen von Flensburg und Besiktas in der Champions League?
Klaus Cachay: Es könnte eine hervorragende Möglichkeit sein, Kindern mit einem bestimmten kulturellen Hintergrund deutlich zu machen, dass Handball auch für sie eine attraktive Sportart sein kann. Es wäre schön, wenn auf internationaler Ebene eine deutlichere Markierung türkischer Vereine erkennbar wäre. Dieses ungewöhnliche Ereignis ist sicherlich etwas, das man als positives Zeichen nehmen kann, weil es unter Umständen Formen der Identifikation bestimmter Gruppen mit dieser Sportart ermöglicht. Mehr darf man davon nicht erwarten.
Wie kann der Handball dieses Ereignis nutzen?
Klaus Cachay: Indem man es in den Medien kommuniziert. Allein die Tatsache, dass darüber geschrieben wird, ist ja ein Aufmerksamkeitsanker. Sehr viel mehr kann man an der Stelle nicht machen.
Die SG Flensburg-Handewitt hat mit Ahmed Elahmar bis Saisonende einen Ägypter ausgeliehen. Können auch solche Personalentscheidungen von Vereinen sich positiv auswirken?
Klaus Cachay: Ob es sich positiv auswirkt, weiß ich nicht. Zunächst wird daran deutlich, dass auch für Menschen aus dieser bestimmten Kultur Handball eine attraktive Sportart ist. Das könnte selbstverständlich auch ein Anker sein, der an dieser Stelle wirken könnte.
Quelle: http://www.dkb-handball-bundesliga.de