Mit Timo Kastening hatte die Europameisterschaft aus deutscher Sicht ihre große Entdeckung. Der 24-jährige Rechtsaußen aus Hannover spielte ein tadelloses Turnier und macht im Sommer seinen nächsten Karriereschritt.
Ihre großartigen Auftritte haben Sie ebenso wie die „Wortfindungsstörung” des Bundestrainers quasi über Nacht weit über die Handballfamilie hinaus bekannt gemacht. Haben Sie alles schon verdaut?
Timo Kastening: Das haben Sie gut zusammengefasst. Natürlich bietet dir die Nationalmannschaft die Bühne, um dich bekannt zu machen. Und wenn du ein gutes erstes Turnier spielst, hilft das ungemein. Und im Nachhinein war die Aktion mit Christian Prokop wirklich lustig und hat für Öffentlichkeit und PR für mich gesorgt. Insofern hat da alles zusammengepasst.
Wenn wir uns auf Ihre sportlichen Auftritte konzentrieren, so waren die ziemlich souverän. Ihre Quote ist überragend, während das Team ziemlich holprig ins Turnier gestartet ist. In der Vorrunde beispielsweise lief wenig bis gar nichts zusammen. Wie geht man als EM-Debütant damit um?
Kastening: Schwer zu erklären. Wir haben in der Mannschaft zusammengesessen und viel darüber gesprochen. Gefühlt hatten wir einen vernünftigen Auftakt gegen die Niederlande, aber auch da waren schon Dinge unrund. Und wenn du dieses Gefühl annimmst, dann strahlst du es auch aus, obwohl du das nicht willst. Im Team jedenfalls stimmt es, wir sind echt gut miteinander.
Und dann kamen die desolaten 15 Minuten zum Auftakt des Spanien-Spiels …
Kastening: … in dem sich die Spanier auch nicht mit Ruhm bekleckert haben. Wir haben vier, fünf Dinger verworfen, es stand aber immer noch 0:0. Dennoch haben wir uns davon anstecken lassen und sind wild geworden, haben uns nicht mehr auf unsere Stärken besonnen, sondern nur noch das Negative gesehen. So wie ich Deutschland kenne, besinnt man sich immer eher auf das Negative als auf das Positive. Vieles haben wir im Verlaufe des Turniers dann aber deutlich besser gemacht. Wir haben zwar auch weiterhin Fehler gemacht, haben uns aber nicht mehr aus der Ruhe bringen lassen und unseren Stiefel gespielt. Natürlich mit der Ausnahme der letzten 15 Minuten gegen Kroatien, was sehr schade war, was aber auch an einem überragenden Domagoj Duvnjak lag. Der hat uns als vorgezogener Abwehrspieler das Leben richtig schwer gemacht. Ich denke, dass es am Ende für die Mannschaft spricht, dass sie den Turnaround noch einmal geschafft hat, auch wenn es am Ende nicht das Halbfinale geworden ist.
Hat dieser Turnaround auch mit dem Ortswechsel nach der Vorrunde zu tun, als der EM-Tross vom norwegischen Trondheim nach Wien übersiedelte?
Kastening: Damit tue ich mich schwer. Wenn es funktioniert, sagen alle, natürlich war der Standortwechsel gut. Hätte es nicht funktioniert, wäre der Reisestress schuld gewesen. Ich glaube aber, dass es gut war, aus Trondheim wegzukommen. Es war schon sehr zäh. Da ist gefühlt eine Stunde Tageslicht am Tag, und in der Halle war wenig los. Es stimmt, dass auch der Gegner damit umgehen musste und vor dieser wenig animierenden Stimmung spielen musste. Das ist keine Entschuldigung. Aber ich kenne es nur, in der Bundesliga vor vollen Hallen zu spielen. Das mag im Unterbewusstsein schon eine Rolle gespielt haben.
Die Hauptrunde war dann weit überzeugender, am Ende aber wurde es lediglich das Spiel um den fünften Platz. Gibt das den wahren Leistungsstand der Mannschaft wieder?
Kastening: Die Enttäuschung schwingt mit, weil wir uns das Halbfinale zum Ziel gesetzt hatten. Grundsätzlich haben wir die Qualität dafür, aber wir müssen auch anerkennen, dass wir bei dieser Veranstaltung gerade in der Crunchtime gegen Spanien und gegen Kroatien die entscheidenden Impulse eben nicht setzen konnten. Da sind uns andere Mannschaften noch einen Schritt voraus. Wir müssen eben anerkennen, dass andere Mannschaften besser und konstanter gespielt haben. Und dann spiegelt dieses Spiel um Platz Fünf eben unseren Leistungsstand wieder.
Können Sie erklären, warum die Schwankungen im DHB-Team so gewaltig waren?
Kastening: Das ist selbst für Spieler, die jahrzehntelang Handball spielen, nur schwer zu erklären. Das hat viel mit dem Kopf zu tun. Wir hatten den Gegner im Griff und Kroatien im Angriff nicht zur Entfaltung kommen lassen. Cindric war im Angriff ebenso wenig ein Faktor wie Duvnjak. Aber dann waren da eben immer noch zwei Weltklassespieler wie Stepancic und Karacic, die dann das Spiel in die Hand genommen haben. Uns hat am Ende die Frische gefehlt, und nach den Fehlern machte es dann im Kopf Klick. Wir haben einige falsche Entscheidungen in der Schlussphase getroffen. Aber einen richtigen Grund dafür kann ich nicht nennen.
Ihnen hingegen schien die Frische nie abhanden zu kommen. Sie warfen insgesamt 27 Tore bei 30 Versuchen, was eine Quote von 90 Prozent bedeutet. Sind Sie so unbekümmert, gerade weil es Ihr erstes Turnier ist?
Kastening: Ich habe ja noch keine Vergleichsmöglichkeiten. Ich habe mir gesagt: Ich will ich bleiben. Es halt auch wichtig, sich in einer Mannschaft wohlzufühlen. Und diese Mannschaft hat es mir leicht gemacht, zumal ich viele Spieler ja schon seit Jahren kenne. Was ich versuche halt auszustrahlen, dass mir Handball Spaß macht und dass ich Bock darauf habe. Ich bin berufen worden, hier zu spielen. Gegen viele Spieler anderer Nationen habe ich auch schon in der Bundesliga gespielt. Insofern habe ich mir einfach vorgenommen, bei der EM zu liefern. Es sieht eben sehr lässig aus, wenn ich meine Bälle reinmache. Aber genau das bekomme ich auch zu hören, wenn ich mal nicht treffe. Wirf lieber hart, und mach’ nicht so einen Firlefanz, heißt es dann. Aber genau das macht mich als Spielertypen aus. Und das will ich mir nicht nehmen lassen.
Turniererfahrung haben Sie allerdings. Sie waren 2014 Junioren- und 2012 Jugend- Europameister. Sind das Erfahrungen, die Ihnen heute von Nutzen sind?
Kastening: Teilweise schon, aber wenn du 19 oder 20 bist, machst du dir über nichts ne Platte. Du hast einfach nur eine geile Zeit mit deinen Jungs. Aber unser Jahrgang war damals sehr stark besetzt, sowohl im DHB als auch bei unseren Gegnern. Ich treffe hier viele Akteure wieder, gegen die ich damals schon gespielt habe. Das hilft dem eigenen Kopf, zu wissen, dass ich da mitspielen kann. Insofern ist diese Erfahrung schon sehr hilfreich.
Allerdings liegen diese beiden Titel schon ein paar Jahre zurück. Ihr erstes Länderspiel absolvierten Sie erst vor zehn Monaten. Sind Sie ein Spätberufener?
Kastening: Das lag wohl in erster Linie daran, dass wir sensationelle Rechtsaußen haben und hatten. Der Trainer hätte mit einigen Rechtsaußen ins Turnier gehen können, was auch gerechtfertigt gewesen wäre. Sicher hätte ich damals als Talent schon gern meine erste Chance bekommen. Heute bin ich 24 Jahre alt und habe bereits sechs Jahre Bundesliga gespielt. Am Ende kommt es wie es kommt, das kannst du dir nicht aussuchen. Du musst deine Arbeit erledigen, und am Ende ist es ein Trainer, der über die Nominierung entscheidet. Ich finde es andererseits aber auch nicht in Ordnung, wenn ein Spieler wie Patrick Groetzki über mehr als zehn Jahre in der Nationalmannschaft Leistung bringt und dann wegen eines schlechten Turniers von den Medien und der Öffentlichkeit so niedergemacht wird.
Sie werden indes bei dieser EM als Shootingstar gehypt. Macht das etwas mit Ihnen oder gleitet das an Ihnen ab?
Kastening: Ich glaube, ich nehme das schon eher gelassen. Ich versuche, vieles zu reflektieren, und ich habe zudem eine Familie, die mich erdet und stets auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Ich möchte natürlich alles mitnehmen, was geht. Und wenn es diesen Hype nun gibt, nehme ich den auch gern an, weil es gut für mich ist. Ich weiß aber auch, dass so etwas vergeht und man plötzlich nicht mehr gefragt ist. Wenn man sich dessen stets bewusst ist, kann einem nicht so viel passieren.
Klingt sehr abgeklärt.
Kastening: Vielleicht, aber ich traue mir zu, damit umzugehen.
In der Mannschaft haben Sie es auf Anhieb zum Kabinen-DJ gebracht.
Kastening: Vor meinem ersten Länderspiel hatte mir Silvio Heinevetter geschrieben, dass bislang Groetzki für die Musik zuständig war. Der war aber nicht eingeladen worden, sodass ich nun sein Amt übernehmen sollte. Ich solle mich um Musik und Musikbox kümmern, schrieb er mir. Bloß gut, dass ich diesen Job in Hannover auch habe. Daher wusste ich, dass unterschiedliche Genres mit ein wenig Mainstream immer ganz gut ankommen. Ich glaube, dass ich meinen Job hier bei der EM ganz ordentlich erledigt habe.
Ihr Trikot trägt die Nummer 73. Ist das eine Reminiszenz an Stefan Kretzschmar?
Kastening: Kretzsche war während meiner Jugend ein Vorbild, so wie es auch Mirza Dzoma war. Und diese Rückennummer 73 hatte für mich eine so extreme Strahlkraft, dass ich sie dann auch unbedingt tragen wollte. Sie spielen seit Beginn Ihrer Bundesligakarriere bei den Recken in Hannover.
Ist das auch Ausdruck Ihrer Bodenständigkeit oder fehlten die lukrativen Angebote?
Kastening: Es ist ein wenig von beidem. Ich möchte eben so lange bei einem Verein spielen, wie es meiner Entwicklung guttut. Das war über Jahre in Hannover der Fall. Ich hatte stets super Trainer. Ich kann nicht sagen, welcher der wichtigste Coach war, aber von Carlos Ortega habe ich sicher am meisten gelernt. Und in der Jugend Raul Sanchez, der jetzt in Barcelona die B-Mannschaft trainiert. Dieser spanische Einfluss aus dem internationalen Handball hat mich sehr geformt.
Im Sommer machen Sie den großen Schritt zu MT Melsungen, wo mit Tobias Reichmann Ihr größter Konkurrent auf der Rechtsaußenposition wartet.
Kastening: Ich habe über beide Clubs nachgedacht. In Melsungen sehe ich eine Mannschaft, die – genauso wie ich – noch wachsen muss. Das passt zu meiner Person und zu meiner Entwicklung. Ich sehe in Melsungen das Potenzial, in den nächsten Jahren die ganz großen Mannschaften zu ärgern. Hinzu kam, dass ich immer mal aus Hannover raus und mich woanders behaupten wollte, um als Persönlichkeit zu reifen. Ich möchte mir zeigen, dass ich es nicht nur in meinem Heimatort kann. Das sind die beiden entscheidenden Aspekte. Zudem war das Angebot auch in finanzieller Hinsicht überzeugend.
Sie begreifen die neue Herausforderung offensichtlich als Chance, auch wenn Sie die Nähe zur Familie aufgeben.
Kastening: Ja, stimmt, aber ich glaube, auch das wird mir guttun. Außerdem ist Melsungen ja nicht aus der Welt. Da wird es immer Möglichkeiten und Gelegenheiten geben, sich zu sehen. Ich bin gespannt, wie ich damit klarkommen werde.
Stimmt es, dass Sie in Ihrer Freizeit im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb mit anfassen?
Kastening: Stimmt! Wenn ich montags frei habe, dann ruft mein Vater oder mein Bruder an und sagt nur: Der Hühnerstall muss ausgemistet werden. Und dann mache ich das. Oder wie jetzt im Herbst stehe ich sechs Stunden im Garten und harke das ganze Laub zusammen. Ich hole die Eier, füttere die Hühner oder wasche unsere LKWs.
Das kennen Sie von frühester Kindheit an?
Kastening: Es hat sicher nicht geschadet, auf dem Land groß zu werden. Ich glaube, dadurch wird man ein wenig zäher und ist vielleicht nicht ganz so verletzungsanfällig.
Sie sind in der Nachbarschaft des Fußballtrainers Dieter Hecking aufgewachsen.
Kastening: Auch das stimmt. Ich bin noch heute sehr gut befreundet mit dessen Söhnen. Das hat bis heute sehr gut gehalten.
Dieser Artikel stammt aus der HANDBALL inside AUSGABE #31 1/2020.
Autor: Arnulf Beckmann
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Quelle: PM
HANDBALL Inside