Die wenigsten deutschen Handballer sind auf das, was bei der Weltmeisterschaft um sie herum passieren wird, nur in der Theorie vorbereitet. Diesen Rausch, der da in der Praxis auf sie zukommen könnte, diese grenzenlose Euphorie, kennen die meisten von ihnen, wenn überhaupt, nur aus dem Fernsehen, als vor zwölf Jahren das „Wintermärchen“ geschrieben wurde. Der einzige Handballprofi, der tatsächlich für den medialen Ansturm gewappnet sein dürfte: Andreas Wolff.
Es war vor drei Jahren, als der Torwart, der bis dahin – gewissermaßen unter der Wahrnehmungsgrenze – in Wetzlar gespielt hatte, wie mit einem Katapult in die Öffentlichkeit geschleudert wurde. Seine großartige Leistung im Finale um die Europameisterschaft 2016 gegen Spanien, als er teilweise eine Fangquote von 60 Prozent aufwies, war für den damals 24-Jährigen die Startrampe für den Sprung in ein neues Leben. Von Null auf Hundert, und das in nur wenigen Tagen, das gab es vorher so noch nie im Handball.
In den sozialen Medien überschlugen sich die Schulterklopfer mit Huldigungen an Wolff. „Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Nein, es ist Superwolff“, hieß es auf einem Bild, das den Keeper als Superman stilisierte. Es gab Fotos mit Wolff, auf denen er den Untergang der Titanic verhinderte, auf denen er Babys auffing oder die ihn als Wand präsentierten. Er war das neue Gesicht des deutschen Handballs. Eine derart hohe Nachfrage nach einem Handballprofi hatte es seit Stefan Kretzschmar, der bekanntlich 2004 seine Nationalmannschaftskarriere beendet hatte, nicht mehr gegeben.
Zwei Tage nach dem Finale stand Wolff in einem Einkaufszentrum in Wetzlar und wurde, als die drei Wetzlarer Europameister empfangen wurde, geradezu überrannt von den Fans. Stundenlang schrieb er Unterschriften und posierte geduldig für Selfies. Am späten Abend gab er dem SPIEGEL noch ein Interview, in dem er erklärte, dass er nun Olympiasieger werden wolle. Und das war erst der Anfang. Am Tag danach flog er nach München. Der TV-Sender Sky hatte ein Treffen mit Manuel Neuer organisiert, dem Weltmeister-Keeper vom FC Bayern. Das breitschultrige Duo unterhielt sich, immer begleitet von TV-Kameras und Mikrofonen. „Vor drei Wochen hätte wohl jeder gefragt: Wer soll der Typ da neben Neuer sein?“, schrieb der SPIEGEL. Abends folgte in Köln ein Auftritt bei Stern TV. Da saß er nun gemeinsam mit der Tennis-Queen Angelique Kerber und Bundestrainer Dagur Sigurdsson und sollte den Laien erklären, warum er fast jeden Wurf hielt.
Obwohl ihn diese mediale Welle völlig unvorbereitet traf, bewegte er sich in dem neuen Milieu wie ein Fisch im Wasser. Was half: Er verstellte sich nicht. „Ich sage immer das, was ich in dem Moment denke, ob das angebracht ist oder nicht“, reflektierte er diesen Hype später rückblickend. „Mich hat diese Offenheit der Fernsehwelt insgesamt fasziniert. Es ist eine sehr angenehme Atmosphäre vor und hinter den Kameras.“ Wolff war, was das anging, völlig mit sich im Reinen.
Die teils unverblümte Direktheit, mit der Wolff seine Auftritte in der Öffentlichkeit absolviert, irritiert hingegen manchmal die Kollegen und auch die Beobachter. „Ich bin schockiert, wir haben ein katastrophales Turnier gespielt“, sagte er nach dem Aus bei der EM 2018 in Kroatien, ähnlich beißend war seine Kritik nach der WM 2017. Vor der Fernost-Reise nach Japan im Juni 2019 ließ er sich zitieren mit einem Satz, den man so deuten konnte, dass er auch heute noch lieber unter einem Bundestrainer Dagur Sigurdsson spielen würde als unter Christian Prokop.
Aber das eigentliche Merkmal seines Wesens ist nicht der souveräne Umgang mit den Medien, sondern vielmehr der unbedingte Wille, der beste Torwart der Welt zu werden. „Ich habe schon immer die Nummer Eins werden wollen“, hat er einmal im Gespräch mit HANDBALL inside erklärt. „Ich höre einfach nicht auf, bevor ich mein Ziel erreicht habe. Es kann schiefgehen oder nicht. Ich will immer Gold gewinnen. Wenn du für Bronze antrittst, dann planst du im Vorfeld schon eine Niederlage ein. Ich gehe nie mit Pessimismus zu Werke.“ Für die WM heißt das, dass für ihn nichts anderes als der Titel zählt.
Mit diesem Motto hat er es nach ganz oben geschafft – obwohl seine Karriere beinahe schon gescheitert wäre, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Gerade 16 Jahre alt geworden, nahm der gebürtige Euskirchener an einer Sichtung des TV Großwallstadt für das dortige Nachwuchsleistungszentrum teil – und brannte, wie sich Beobachter erinnern, schon vor Ehrgeiz, brüllte seinen Frust bei jedem Gegentor heraus, Talent und Wille waren unübersehbar. Er wollte in die Welt ziehen, um der beste Torwart der Welt zu werden. Doch die Ausbildung drohte daran zu scheitern, dass der TVG rund 450 Euro im Monat für das Internat verlangte. Das gehe nicht, erklärt Wolffs Vater, der als Bauarbeiter sein Geld verdiente, das könne sich die Familie nicht leisten. Ein Jugendtrainer erfuhr davon und sorgte für freie Kost und Logis für Wolff bei einem Mitspieler.
Über den TV Kirchzell und den TV Großwallstadt kam Wolff, der schon im Alter von 17 Jahren in der Bundesliga debütierte, im Sommer 2013 also nach Wetzlar. Zunächst war er dort kaum zu gebrauchen, weil er sich selbst in ein Formtief stürzte, wenn er ein paar Bälle nicht parierte, die er glaubte halten zu müssen. Das zerfraß ihn förmlich, das nagte so sehr an ihm, dass nichts mehr ging. „Am Anfang hat er sich selbst kaputt gemacht”, erzählt Jasmin „Jasko” Camdzic, der für das Torwarttraining zuständige Co-Trainer der HSG Wetzlar. „Die Zähmung des Hulk“, nannte der SPIEGEL diesen Kampf Wolffs mit den Dämonen. Aber Wolff lernte allmählich, mit seinem Ehrgeiz umzugehen. Schon im Herbst 2015 glänzte er mit unglaublichen Leistungen, manchmal parierte er 70 Prozent der Würfe.
Bei der EM in Polen wurde er zum Stammkeeper, als er das Gruppenspiel gegen Schweden mit unfassbaen Reaktionen drehte. Nach dem klaren Sieg im ersten Hauptrundenspiel gegen Ungarn sagte er beim ZDF: „Im Hinterkopf ist der Traum präsent, Europameister zu werden.“ Mit jedem Sieg geriet die Rhetorik des Keepers angriffslustiger. Nach dem dramatischen Halbfinale gegen Norwegen sagte er: „Übermorgen stehe ich hier und um meinen Hals hängt eine Goldmedaille. Am Sonntag wird der Wolff losgelassen.“ Und tatsächlich brachte er die stolzen Spanier mit seinen Paraden zur Verzweiflung. Sie staunten, als Wolff Würfe von außen, die sich über den Kopf senken sollten, mit dem Fuß (!) abwehrte. Als das Finale vorbei war, hatte er den Favoriten bei 17 Toren gehalten: Rekord für ein EM-Endspiel.
Die EM-Goldmedaille baumelte noch nicht um seinen Hals, da sprach Wolff schon davon, nun unbedingt auch Olympiasieger werden zu wollen. Und Weltmeister 2017 in Frankreich. Und dass das alles erst der Anfang sein solle. Dass eine Karriere aber nie linear verläuft, erlebte Wolff im Sommer 2016, nach seinem Wechsel zum Rekordmeister THW Kiel. Bei den Olympischen Spielen in Rio hatte er zwar Bronze gewonnen, auch diese erste olympische Medaille seit 1984 war eingroßer Erfolg. Und doch haderte Wolff schwer mit sich, weil er im Halbfinale gegen Frankreich zu Beginn, als ihn die Abwehr im Stich gelassen hatte, keinen der ersten zehn Bälle gehalten hatte und ausgewechselt wurde.
Bekanntermaßen endete auch die WM 2017, die in der Vorrunde so verheißungsvoll begonnen hatte, mit der enttäuschenden Achtelfinalniederlage gegen Katar (20:21) – an Wolff lag es diesmal nicht, er hielt in diesem K.-o.-Spiel wieder fantastisch: Seine Fangquote (49 Prozent) war sogar noch besser als im EM-Finale 2016. Im Bundesligaalltag beim THW Kiel litt er jedoch nun schwer daran, nicht die unumschränkte Nummer Eins zu sein, sondern die Einsatzzeiten mit dem dänischen Supertorhüter Niklas Landin teilen zu müssen. Aus diesem Frust heraus unterschrieb er daher schon sehr frühzeitig den nächsten Vertrag, der ihn ab dem Sommer 2019 an den polnischen Meister Kielce bindet.
Diesen Schritt ins Ausland bereut er, so scheint es, heute bisweilen. Und das nicht nur, weil ihm in Polen schon vor dem ersten Training eine massive Gehaltskürzung droht. Schwerer wiegt aber noch, dass Kielce nicht mehr den Anspruch erhebt, die VELUX EHF Champions League mit aller Macht gewinnen zu wollen. Und daher hat sich Wolff, so ist jedenfalls in der Branche zu hören, schon nach möglichen Alternativen umgehört. Eine Ausfahrt könnte, heißt es in der Gerüchteküche, die MT Melsungen sein.
Wie auch immer seine Clubkarriere, die bisher allein den Gewinn des DHBPokals (2017) ziert, weiter verlaufen wird, sie steht in diesen Wochen hinter der WM zurück. Andi Wolff hat sich in den letzten Monaten ganz offensichtlich sehr gezielt auf das Großereignis vorbereitet. Er hat wenig Interviews gegeben – und trainiert und trainiert und trainiert. Er ist daher physisch und athletisch top vorbereitet. Wie weit ihn sein Ehrgeiz auch im Kraftraum treibt, zeigen seine unfassbaren Werte beim Bankdrücken, wo er manchmal 150 Kilogramm stemmt. Es lebt inzwischen ein Bodybuilder im Körper dieses Handballtorwarts. Seine Physis ist so mächtig, dass es gerade für die Angreifer aus der Nahwurfzone ziemlich dunkel wird, wenn Wolff aus dem Tor herausspringt.
Das harte Training hat sich für den zweimaligen Handballer des Jahres (2015, 2016) jedenfalls ausgezahlt, im Herbst stieg seine Form kontinuierlich. Mehrfach hat Wolff, wenn sein Team am Rande einer Niederlage stand, mit seinen Paraden den Ausschlag gegeben. Diese Demonstration des eigenen Könnens nährte zuletzt offensichtlich noch sein Selbstbewusstsein. Das ist ein sehr gutes Zeichen für die Ambitionen der deutschen Handballer. Denn wenn die DHB-Auswahl den Traum vom Titel möglichst lange leben will, dann ist sie vor allem auf einen Andreas Wolff in Superform angewiesen.
Wolff wird sich, das lassen die Erfahrungen der vergangenen Großturniere vermuten, durch die Euphorie bei der Heim-Weltmeisterschaft eher noch antreiben lassen. Er wird die Atmosphäre in den vollen Hallen genießen, und er wird mit den Emotionen der Fans spielen, wenn er entscheidende Würfe gehalten hat. Und natürlich weiß er, dass so eine Chance so schnell nicht wiederkehren wird. Aber andererseits: Er ist ja mit seinen 27 Jahren noch ein sehr junger Torwart. Thierry Omeyer, der mutmaßlich beste Torwart der Handballgeschichte, hatte seine beste Zeit nach seinem 30. Geburtstag. Und Árpád Sterbik, der ein Idol Wolffs war, bevor er das Duell im EM-Finale 2016 gegen ihn gewann, wurde mit 38 Jahren noch Europameister. Für den „Super- Wolff“ werden, wenn er seinen Körper weiterhin so nach Scheckheft pflegt wie bisher, noch viele Titelchancen kommen.
Dieser Artikel stammt aus der HANDBALL inside Sonderausgabe WM 19. Autor: Erik Eggers
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