Ob sich wohl irgendjemand bei der Auswahl des Ortes tiefer gehende Gedanken gemacht hat? Man weiß es nicht. Falls nicht, ist es zumindest ein schöner Zufall, dass der erste offizielle öffentliche Auftritt von Christian Prokop nach dem Präsidiumsbeschluss, gegen zahlreiche Widerstände doch mit ihm weiterzumachen, ausgerechnet in der Kopenhagener Straße irgendwo im Dortmunder Osten stattfand. Das Baugebiet ist erst vor wenigen Jahren erschlossen worden, die Straße relativ neu und gesäumt mit modernen Gewerbe- und Wohnhäusern. Und sie trägt den Namen jener Stadt, in der vor ziemlich exakt 40 Jahren der deutsche Handball seinen Aufbruch in die Moderne begann. Mit Heiner Brand, mit Vlado Stenzel und mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1978. Und beinahe wäre die dänische Hauptstadt auch der neue Sehnsuchtsort der deutschen Handballenthusiasten geworden, wäre das Finale der WM 2019 nicht schlussendlich in die dänische Provinz nach Herning vergeben worden.
Einem weit weniger glücklichen Zufall ist es wohl geschuldet, dass der Bundestrainer den Medien ausgerechnet in den Räumlichkeiten einer großen Krankenkasse Rede und Antwort stehen musste. Gerade so, als sei der deutsche Handball, wenn schon nicht krank, so doch zumindest rekonvaleszent. Kann aber auch sein, dass überhaupt niemand irgendetwas mit dieser möglicherweise weit hergeholten Symbolik zu tun hatte, obwohl die Diagnose aktuell nicht so falsch ist. Von einer WM, die viel zu früh im Achtelfinale endete, und einer EM, deren Ergebnis – und mehr noch das Auftreten der Mannschaft und ihres Trainers – ernüchternd war, muss sich Handball- Deutschland derzeit noch erholen. Oder, um im Bild zu bleiben, nach ein paar Wochen strenger Bettruhe traute er sich an jenem Tag in Dortmund wieder unter Leute. „Uns ist sehr bewusst”, sagte dann auch Axel Kromer, „dass der Fokus der Öffentlichkeit verstärkt auf uns gerichtet ist, auch wenn die beiden ersten Begegnungen nach der EM weder Pflicht- noch Qualifikationsspiele sind. Aber sie sind die erste Stufe auf dem Weg zu einer hoffentlich erfolgreichen, emotionalen WM in Deutschland.”
Der Sportdirektor gab damit schon die Parole für die nächsten zehn Monate aus. Vieles steht derzeit beim Deutschen Handballbund im Allgemeinen und bei der Nationalmannschaft im Besonderen unter kritischer Beobachtung. Erst recht, seitdem das Präsidium des Verbandes in der zweiten Februarhälfte mit knapper Mehrheit beschloss, trotz der harschen Kritik an seinem Bundestrainer mit selbigem weiterzumachen und das Projekt Heim-WM 2019 mit Christian Prokop in der sportlichen Verantwortung anzugehen. Es war eine Entscheidung, die viele überrascht haben dürfte, weil Prokop schon während der Europameisterschaft, erst recht aber danach unter heftigsten Beschuss nicht nur von den Medien geriet. Die Vorwürfe reichten von falschem Coachen über Gängeln und Nerven der Spieler bis hin zu einer kompletten Misskommunikation. Von gewaltigen Verwerfungen war die Rede. „Ich weiß von Spielern, die sich negativ geäußert haben”, schrieb Daniel Stephan, einst Welthandballer und selbst langjähriger Nationalspieler, in seiner Kolumne für Sport1. „Nicht offiziell, aber das zeigt: Es stimmt einfach hinten und vorne nicht zwischen Prokop und dem Team.”
Die Lesart des Verbandes, zumindest in der Mehrheit, war eine andere. So kam es, dass der so gescholtene Christian Prokop Anfang März erstmals seit seinem Ausscheiden sechs Wochen zuvor wieder in die Öffentlichkeit trat – und das noch immer als Bundestrainer. Und natürlich hatte das in der Medienlandschaft die Neugier geweckt. Alle kamen, selbst der Pay-TV-Sender Sky, der sich seit Saisonbeginn mit großem Aufwand der Handball-Bundesliga annimmt, übertrug das Medientreffen.
Doch wer auf Gehaltvolles rund um die Geschehnisse der vergangenen Wochen hoffte, wer auf Transparenz und verstohlene Blicke hinter den dicken DHB-Vorhang spekulierte, sah sich schon nach wenigen Sätzen Prokops getäuscht. Wenig Informationsgehalt, dafür viel ideologisch Verbrämtes. Er, Prokop, habe viele positive Treffen mit seinen Nationalspielern gehabt, er habe auch mit Trainern und Bundesliga-Managern „offen und positiv zurückgeblickt, um den Weg für die Zukunft zu ebnen. Alles mit dem Ziel, die Kräfte für die WM zu bündeln.”
Es blieb dabei: Prokop ließ auch sechs Wochen nach der verkorksten Europameisterschaft nicht durch die Gardinen in sein Wohnzimmer blicken. Er wolle, sagte er, nur nach vorne schauen. Es fielen die üblichen Sätze wie eben jener: „die Kräfte bündeln”. Oder: „offen und ehrlich analysieren”. Es klang alles so furchtbar technokratisch, als ginge es allein darum, Denkbestände aufzuarbeiten und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Man wünschte sich förmlich, dass Prokop mal schimpfte, fluchte oder mal laut lachte. Stattdessen sprach er von „ehrlicher Selbstreflexion” und „Veränderungen, die man sehen” werde. Preisgeben wolle er das alles aber noch nicht. „Wir haben in Deutschland eine Philosophie, und wir haben eine Handschrift, sodass wir keineswegs bei Null anfangen.”
Man spürt: Ein gutes dreiviertel Jahr vor der Heim-WM ist der deutsche Handball ein fragiles Gebilde. Deshalb werden Veränderungen sicher nicht gravierend, sondern eher minimal sein. „Im Zwischenmenschlichen”, sagte Kromer dann auf Nachfrage, „in der Kooperation und in Bezug auf Außenstehende.” Ob er damit einen veränderten Umgang mit den Medien meint, die mit dem Verband, aber vor allem mit Prokop während und nach der EM – zu Recht – hart ins Gericht gingen, ließ er offen. Die großen Fragen wurden an dieser Stelle kaum gestreift. Und wenn doch, eher fadenscheinig beantwortet.
Prokop selbst hat sicher keine leichten Tage (und Nächte) hinter sich. Wer sich ihm nähern will, tut das derzeit vorsichtig, beinahe rücksichtsvoll, selbst die Fragen sind zurückhaltend formuliert. Allein schon die Tatsache, dass sich die Verantwortlichen rund vier Wochen Zeit nahmen, um sich dann in Hannover am Flughafen zu treffen und eine Entscheidung zu fällen, muss ihn sehr mitgenommen haben. Nur acht von zehn Präsidiumsmitgliedern waren erschienen. Und von den acht sollen sich nur fu¨nf fu¨r Prokop ausgesprochen haben. Darauf angesprochen, sagte Prokop, dass es sicher „nicht leicht” gewesen sei, diese Zeit. „Heute aber will ich nach vorn blicken, freue mich über die Unterstützung und möchte betonen, dass es das Wichtigste ist, ein Ergebnis für die Zukunft des Handballs gefunden zu haben.” Mehr wollte er dazu nicht sagen, und er bat um Verständnis für seinen Standpunkt.
Viel lieber redete er da schon wieder über Handball und über die Spielphilosophie der deutschen Mannschaft. Mit emotionalem und attraktivem Handball, so Prokop, wolle er die Vorbereitung und WM angehen, mit Tempohandball und mit einer verstärkten Rückraum Mitte-Position. Deshalb fanden sich im Kader für die ersten beiden Testspiele mit Simon Ernst vom VfL Gummersbach und Niclas Pieczkowski aus Leipzig jene zwei Spielgestalter, die bereits 2016 Europameister wurden, 2018 aber verletzungsbedingt passen mussten. Stattdessen fielen zwei andere Leipziger, die noch vor zwei Monaten in Prokops Planungen eine zentrale Rolle einnahmen und deren Berufung heiß diskutiert worden war, raus. Maximilian Jahnke und Sebastian Roschek erhielten keine Nominierung für Leipzig und Dortmund. Späte Einsichten, oder was? „Die beiden sind nicht draußen”, so Prokop, „nur diesmal nicht dabei.“
Raus ist übrigens keiner! Und von den Rücktrittsgerüchten einiger Stammspieler bewahrheitete sich ebenfalls kein einziges. Auf die Frage, ob ein von ihm kontaktierter Nationalspieler ihm signalisiert hätte, von ihm nicht mehr nominiert werden zu wollen, antwortete Prokop kategorisch: „Nein!” Dennoch ließ die Bekanntgabe des Kaders für die Testspiele weiteren Raum für Interpretationen. Denn interessant ist auch, was Prokop nicht macht: Es gibt im Vergleich zur EM zwar fünf Neue, aber keinen einzigen Neuling. Pieczkowski, Ernst und auch Fabian Wiede waren schon wichtiger Teil der #badboys, Tim Hornke und Max Musche schon häufig beim Nationalteam. „Ich habe allein nach dem Leistungsprinzip nominiert”, sagte der Bundestrainer, „und Wert darauf gelegt, verschiedene Charaktere zu finden, die miteinander funktionieren müssen.” Getestet werden demnach nur die Spieler, die schon vor der WM zum erweiterten Kader gehörten. Offensichtlich ist Prokop demnach von seinem Kurs abgekehrt, schaut weniger auf sein Spielsystem, sondern vielmehr auf das Spielermaterial. Was er sich von seinem Team wünsche? „Ganz einfach, dass häufiger gelacht wird.”
Dass das so kommen wird, daran trägt er als Chefcoach den größten Brocken Verantwortung. Man kann Prokop viele Versäumnisse vorwerfen – unmittelbar vor und während der EM. Eines aber sicher nicht: dass er sich nur oberflächlich mit dem Handball auseinandersetzt. Prokop ist wohl des Handballs akribischster Arbeiter. Nichts will er dem Zufall überlassen. Übertrieben gesprochen würde er sogar gewisse Sequenzen der genetischen Codes seiner Spieler so verändern, dass sie noch besser werden, wenn er die wissenschaftlichen Möglichkeiten dazu hätte. Das ist perfekt für einen Vereinstrainer, dem Anforderungsprofil eines Bundestrainers entspricht er damit lediglich bedingt. Denn dazu bedarf es eben auch jener Entertainer-Qualitäten, die ein Heiner Brand und auch ein Dagur Sigurdsson hatten. Beide wussten, wie man eine Truppe wilder Kerle bei Laune hält. Sicher nicht mit der Taktiktafel oder mit spieltheoretischen Einzelgesprächen. „Eine neue taktische Ausrichtung in der Kürze der Zeit vermitteln zu wollen, das habe ich sicher unterschätzt”, so Prokop.
Das ist eine späte Einsicht, aber sicher auch ein gute. Erstaunlich und erfreulich zugleich ist die Tatsache, dass die Begeisterung rund um die Handball-Nationalmannschaft trotz zweier durchwachsener Großturniere hierzulande noch lange nicht abebbt. Rund drei Wochen vor den beiden Testspielen gegen Serbien war die Halle in Dortmund schon fast voll. 8.500 der insgesamt 10.000 zur Verfügung stehenden Tickets waren Mitte März bereits verkauft. Auch in Leipzig waren zu dem frühen Zeitpunkt bereits mehr als 50 Prozent der Eintrittskarten abgesetzt. Das alles macht schon heute viel Lust auf die WM. Voraussetzung ist, dass sich Prokop, Mannschaft und auch die Medien wieder annähern. Nichts weniger erwarten alle Beteiligten – und auch die Fans …
Dieser Artikel stammt aus der HANDBALL inside Ausgabe #20 2/2018. Autor: Arnulf Beckmann
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Quelle: PM HANDBALL Inside
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